Lockdown forever – warum das „Früher“ nicht zurückkommt

Irgendwann war die Regierung zu der Überzeugung gekommen, den Lockdown für immer zu verlängern und nicht mehr aufzuheben.

Nein, das war natürlich nicht die ursprüngliche Absicht gewesen und es war auch keineswegs bösartig; aber dann hatte es zunächst unmerklich und schließlich immer stärker diesen stillschweigenden Konsens zwischen Regierenden und Regierten gegeben und die Dinge entwickelten sich einfach in die Richtung. Die Proteste nahmen ab und die Gesellschaft akzeptierte eine neue Ordnung.

Das Leben war auf einmal so übersichtlich geworden; kein Terminstress, keine Hetze von Event zu Event, von Vernissage zu Vernissage, von Theater- und Opernaufführung zur nächsten, von Party zu Party, von Essenseinladung zu Essenseinladung usw. – auch der ganze Einkaufsstress, Parkplatz finden, durch die Geschäfte hetzen, alle Angebote sichten, nur nicht zu teuer kaufen und nur nichts verpassen – vorbei.

In der guten alten Zeit (so nannte man mittlerweile die Ära vor Corona – ähnlich wie man die Goldenen Zwanziger des letzten Jahrhunderts glorifizierte); also in der guten alten Zeit war es ja schon zur wahren Bürgerpflicht geworden, sich jede freie Minute mit irgendwelchen Events zu verplanen. 

Langes Wochenende von Freitag bis Sonntag: Ab nach Malle. Weihnachtshopping in New York: Samstag mit Handgepäck hin – Sonntag mit Koffer voller Geschenken und Klamotten zurück. Pfingsten: Da lohnt ein Abstecher nach Tokio zur Thunfisch Versteigerung. Und „wow“: Kapstadt liegt ja in derselben Zeitzone – Freitagabend im Flieger hin und Sonntagabend zurück und Montagfrüh nach der Landung gleich zur Arbeit – warum nicht? Und wenn schon nicht so weit, dann wenigstens ein Wellnesswochenende in dem schicken Hotel am Bostalsee.

Nicht jede Minute des Lebens auszukosten und vollzupacken, kam wahrer Blasphemie gleich – Gott schenkt uns Zeit und wir müssen sie nutzen.

Und dann?! Dank Corona von 100 auf 0. Das System steht still.

Unser inneres, adrenalingepeitschtes Selbst erlebt zunächst erst mal einen Schock. Was? Wie kann das sein? Totale Panik. – Wir werden auf uns selbst zurückgeworfen. Drehen wie die Hamster mit Vollgas im Rad und wollen es nicht wahrhaben. Machen wie die Gedopten: entrümpeln, Akten ordnen, reparieren, was schon längst abgeschrieben ist, die Steuererklärung angehen, shoppen im Internet, netflixen bis zum Umfallen, neue Gerichte kreieren – und: am Ende des Tages ist immer noch Zeit übrig.

So langsam allerdings gewöhnt sich die Seele an die neue Langsamkeit, die leeren Straßen, die Begrenztheit der Kontakte und Entfernungen, das Einkaufen im Internet – und die neu dazugewonnene Qualitäts-Zeit. Mehr Lesen, mehr Zeit, Dinge auch in der Tiefe zu verstehen oder einfach nur mal gar nichts tun.

Ja, Muße; müßig sein, die Dinge laufen lassen – warum nicht? Die Haare wachsen immer länger doch die Friseure sind geschlossen. Egal – lange Haare sind plötzlich wieder modern.

Und überhaupt – waren wir früher nicht einfach zu oberflächlich?

Adrett gekleidet, geschminkt oder rasiert, wohlriechend; das waren bis vor kurzem noch die Attribute, wie man an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen hatte.

Jetzt im T-Shirt oder Kapuzenjacke in die Video-Konferenz. Gerne auch ein Dreitagebart und Wuschelfrisur. Dazu ein möglichst lässiger Hintergrund mit ungemachtem Bett – wow. Das ist die neue Coolness. Und Coolness wird zum Statussymbol!

Was haben Sie heute gemacht? „Nichts“ aus tiefster Überzeugung und ohne schlechtes Gewissen einfach „Nichts“ sagen – vor wenigen Monaten noch unvorstellbar…

Und so ging die Zeit ins Land. Modegeschäfte, Fach- und Einzelhandel, Restaurants, Sport- und Wellnessanlagen, Konzerte, Theater, Opern, Kinos, Messen, Jahrmärkte, Zirkus und Großveranstaltungen jeglicher Art: alles seit Monaten geschlossen – und vieles für immer. Der unvorstellbare Gedanke, es geht auch ohne dies alles, nimmt langsam Gestalt an.

Den Satz: „Wenn die Restaurants wieder aufhaben, also so oft wie früher, müssen wir da auch nicht mehr hin“, hört man immer öfter. Die Leute kochen mittlerweile besser und raffinierter als die meisten bürgerlichen Restaurants.

Aber 70 bis 80 Prozent der Gastronomen und Einzelhandelsgeschäfte haben einfach auch keinen Bock mehr, werden nicht mehr aufmachen, sich den ganzen Stress nicht mehr antun – warum auch? Auch sie haben die neue Langsamkeit für sich entdeckt. Quality Time!

Und Fußball gucken von zuhause geht doch auch. Ab 62 Zoll Bildschirmgröße kommt das Stadion zu Dir nach Haus – kein Parkplatzstress, Alkoholverbot und Gedränge.

Gedränge! Das ist das neue Zauberwort. Unglaublich wenn man heute Filme von Veranstaltungen sieht, die noch gar nicht lange zurückliegen. „Oh Gott, guck mal, wie viele Leute?! Und wie nah die zusammenstehen? Dass da keiner Angst hatte…“

Ja, die Angst ist heute da – über Monate geschürt und weiter geschürt. Und als es kurz davor war, die Sache in den Griff zu bekommen, die Zahlen wieder runtergingen und geimpft wurde – das Traumata noch nicht so groß war, dass es ganze Generationen belasten würde, man also kurz davorstand, die Welt wieder zu öffnen, da hörte man schon die ersten Stimmen: „Eigentlich schade…“ – aber dann kam ja zum Glück die Sache mit der „Omikron“-Mutation und der vierte Lockdown.

Das Buch ist erschienen bei Van Helmont: Verlag für verborgene Talente in Saarbrücken, kostet 10 € und kann per E-Mail unter info@van-helmont.de bestellt werden.