Lyoner gut – Politik gut

Der Bergbau hat vor vielen Jahren dicht gemacht. In der Verbrennerautoindustrie gehen tausende Jobs verloren. Die Schulden des Landes steigen, während Kaufkraft und Wohlstand sinken. Jedes Jahr sterben 5000 Saarländer mehr als geboren werden. Die digitale Evolution verdrängt viele Jobs an der Werkbank. Die Aussichten sind bedrückend. In dieser wenig hoffnungsvollen Lage brauchen die Saarländer Perspektiven, Gewissheiten und Haltepunkte.

Wie früher, als Bergbau und Hütten noch Zuversicht für ein ganzes Leben gaben. Aus dem kollektiven Gedächtnis wurden deshalb Symbole der Tradition wiederbelebt. Tragendes Element dabei das deftige Essen der Bergarbeiter-Ära. Dessen Krone ist der Lyoner. Stecken doch in jedem Bissen Emotion, Erinnerung und Nostalgie. Irgendwie haben sich im Lauf der Zeit die sinnlichen und seelischen Ingredienzien in der Brühwurst zur saarländischen Lebensfreude verdichtet.

Lyoner als Corporate Identity

Es verwundert nicht, dass die Politik die emotionale Kraft von Fleischwürsten systematisch einsetzt. 1985 nach der Machtübernahme durch Oskar Lafontaine hatte die Staatskanzlei eine neue Grundschrift für die Öffentlichkeitsarbeit der Landesregierung entwickeln lassen, wegen der rundlichen Typografie Lyoner-Schrift genannt. Spätestens seit dem ist die Corporate Identity, man ist geneigt zu sagen: das Selbstbewusstsein des Saarlandes, fest mit dem Ringel verplombt.

Ora et Lyona

Ein Bild aus dieser Zeit von einer Werbeveranstaltung eines saarländischen Lyoner-Großproduzenten; es zeigt den betenden Oskar Lafontaine vor einem Lyoner-Plakat so ins Bild gerückt, dass der Ringel wie ein Heiligenschein über dem Landesvater schweben sollte. Krönungsmesse auf saarländisch.

Selbstverständlich ließ Lafontaine vom Küchenmeister der Landesvertretung, damals noch in Bonn, Lyoner servieren. Der Koch hatte zuvor im Saarbrücker Sternerestaurant „Légère“ Feines aufgefahren. Das Convenience-Produkt Lyoner sollte fortan den Goût der Haute Cuisine dahermachen.

Der Wurst-Kult animierte auch einige SPD-nahe Kulturschaffende. Sie produzierten für den SR ein Quatsch-Hörspiel mit 24 Episoden. Titel: „Lyoner Eins antwortet nicht.“ Die Botschaft im All und auf saarländischer Erde: Lyoner ist die fleischwurstgewordene Lebensfreude der Saarländer, semiotisches Zeichen der saarländischen Kultur.

Das Emblem der saarländischen Weltschauung. Für Ministerpräsidentin Anke Rehlinger ist er #EchteSaarlandliebe. In ihrem letzten Wahlkampf-Flyer posierte sie für die „Zukunftsperspektive“.
Die Duftmarken in der Tourismus-Werbung

Die Tourismus Zentrale Saar, die mit Image-Werbung Erholung suchende ins Land lockt, hat ebenfalls Deftiges auf der Werbepfanne. Sie lässt neben Saarschleife und Weltkulturerbe die schweren Odeurs von Dibbelabbes, Schwenkern, Gefillden und natürlich von warmem Lyoner online zu den umworbenen Touristen ziehen, als Duftmarke des saarländischen Lifestyles. Lyoner krönt auch das neueste Saarland-Souvenir „Saarvenir“. (N.B.: Empfehlenswert bei SR2 dazu: Brunners Welt vom 5. Mai 2023) und TV total.

Fühlen, was ein Land spürt. Minister Reinhold Jost, Fleischer-Funktionäre und das saarländische Kulturgut.

Mit der Lyoner-Mentalität der Saarländer müsse endlich Schluss sein. Wenigstens darin war sich die Runde der Exil-Saarländer auf dem Podium der Uni-Gesprächsrunde dieser Tage zum Thema “Mehr als Lyoner und Saarschleife?” einig. Es ging darum, wie die Nicht-Saarländer auf unser Land blicken sollen. Lesen Sie dazu Christoph Schreiners Analyse einer “Therapiestunde” in der Saarbrücker Zeitung.

Markenschutz für ein Kulturgut

Als 2015 die Fleischerinnung Alarm schlug, der Markenschutz für die Saar-Lyoner laufe ab und – wurst case – bald könne jeder daherwurstende Metzger seine Fleischwurst „Lyoner“ nennen, griff die Landesregierung mit an. Reinhold Jost, damals Verbraucherschutzminister, sah sogar ein Stück saarländischen Selbstwerts verlustig gehen. Der Minister ließ mit 3.000 Euro Steuergeld den Markenschutz für Saar-Lyoner beim EU-Patentamt verlängern. „Saarland ohne Lyoner ist undenkbar! Bei uns sind Generationen mit dem Ringel groß geworden. Er ist ein Lebensgefühl,“ sagt Jost, Saarland-tümelnd, in der BILD-Zeitung.

Das wenig verheißungsvolle Lebensgefühl

Möglicherweise, weil die realen Lebensbedingungen im kleinen Bundesland wenig Nährboden für ein verheißungsvolles Lebensgefühl bieten:
● Das Saarland verliert massiv Einwohner und Jobs;
● wegen schwacher Steuerkraft ist das Land auf hohe Zuwendungen durch Bund und starke Bundesländer angewiesen (mit denen nicht einmal die marode Infrastruktur saniert werden kann);
● die Landesregierung macht Schulden, als gäbe es kein Morgen;
● Wirtschaftspolitik und Industrie gelten als wenig innovativ (DIW);
● die Einkommen liegen weit unter Bundesniveau und die Kaufkraft schwindet;
● das Land weist die meisten Krebs- und Psychokranken der Republik aus (RKI);
● der Anteil armutsgefährdeter Kinder und Senioren ist besonders hoch;
● die Saarländer gehören zu den unglücklichsten Deutschen (Platz 15 der Bundesländer im Deutschen Glücksatlas 2022).

Emotionaler Schutzwall

Alles schmerzliche Zurücksetzungen für das Selbstwertgefühl der Menschen und ein vielfaches Abgehängtwerden im Wettbewerb der Bundesländer. Möglicherweise ist die Mythenbildung um den Lyoner eine Art soziokulturelle Aufarbeitung permanenter Niederlagen und Erniedrigungen. Der Historiker Wolfgang Schivelbusch (Standardwerk: „Die Kultur der Niederlage“) hat beschrieben, wie sich eine Gesellschaft nach Niederlagen eine Ersatzwelt schafft, um sich gegen das Unabänderliche und neue Enttäuschungen resistent zu machen. „Citadelles sentimentales“ nennt Schivelbusch solche psychodynamischen Verhaltensmuster.

Als emotionaler Schutzwall gegen eine kompliziert gewordene Realität, dafür steht der Lyoner – in diesem Zusammenhang stehen auch Maggi, Urpils und Saarlodris. Politiker nutzen dies, nicht wenige Saarländer sind für solche einfachen Botschaften anfällig und die Gute-Laune-Medien im Land influenzen sie seit vielen Jahren.

Dabei müsste die Landespolitik und die Eliten alle Energie darauf verwenden, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Wie kann verhindert werden, dass das Land weiter verarmt, der Wohlstand weiter sinkt? Wie ist ein sozialer Ausgleich für die armutsgefährdeten Jungen und Alten hinzubekommen? Welche Präventionsmaßnahmen organisieren Land und Kommunen, damit die Saarländer nicht mehr die kränksten Deutschen sind? Mit der schlichten Maxime „Lyoner gut – Politik gut“ ist das nicht zu schaffen.

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